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Günther
Korz
Verwaltete Jugend
Zu
was erzieht die öffentliche Erziehung?
Günther
Korz wurde 1943 in Kielce (Polen) geboren, hat nach
kaufmännischer Lehre und einem Jahr Berufsarbeit ein Jahr
„gegammelt". Anschließend besuchte er das
Abendgymnasium und arbeitet zur Zeit als freier Journalist in
Köln.
In der Bundesrepublik unterliegen rund 45 000
Jugendliche der öffentlichen Erziehung. Teils aufgrund von
Fürsorgeerziehung, teils im Rahmen der Freiwilligen
Erziehungshilfe. Während der Fürsorgeerziehung ein
Beschluß des Vormundschaftsgerichts vorausgeht, wird die
Freiwillige Erziehungshilfe auf Antrag der
Erziehungsberechtigten eingeleitet. Die Zahl der Jugendlichen, die
der Fürsorgeerziehung unterliegen, sinkt ständig,
gleichzeitig steigt der Anteil derjenigen, bei denen
"Erziehungshilfe" von den Erziehungsberechtigten
beantragt wurde. Darauf ist der Gesetzgeber mächtig stolz.
In der Bundestagsdrucksache IV/3515 heißt es wörtlich:
"Der
Freiwilligen Erziehungshilfe wird vor der Fürsorgeerziehung
unbedingt der Vorzug gegeben; . . . Die Freiwillige
Erziehungshilfe will optimal günstige Voraussetzungen für
ein enges Zusammenwirken mit dem Elternhaus schaffen. Die Familie
wird am Erziehungsgeschehen beteiligt, so daß die spätere
Rückkehr des Kindes bzw. Jugendlichen in das Elternhaus eher
und leichter erreicht werden kann. . . . Da sie (die Eltern) sich
freiwillig für die öffentliche Erziehung
701
entscheiden
können, müssen sie nicht länger den Makel tragen, daß
ihnen die Kinder zwangsweise genommen werden."
Für
den einzelnen Jugendlichen hat dies kaum Bedeutung, da in den Heimen
bei der Behandlung von Jugendlichen der Fürsorgeerziehung und
der Freiwilligen Erziehungshilfe kein Unterschied besteht. Und die
Zusammenarbeit mit der Familie? Ich habe jedenfalls oft genug
erlebt, daß entlaufene Heimzöglinge selbst nicht genau
wußten, ob Fürsorgeerziehung oder "Erziehungshilfe"
über sie verhängt worden war. So schön sich der
Text liest, in Wirklichkeit handelt es sich um eine
Scheinliberalisierung. Die etwa 45 000 in Erziehungsheimen
lebenden Jugendlichen sind eine Randgruppe der Gesellschaft.
Praktisch allein gelassen, sind sie einem nahezu allmächtigen
Verwaltungsapparat ausgeliefert. Sie haben keine Lobby. Keine
Partei und keine Gewerkschaft vertritt ihre Interessen. Niemand
klärt sie über ihre bescheidenen Rechte auf. Erst
in jüngerer Zeit haben sich vereinzelt Gruppen gebildet, die
sich mit den Problemen der öffentlichen Erziehung befassen.
Wenngleich das allgemeine Interesse an der öffentlichen Erziehung
gering ist, so kann deren Rückwirkung auf
gesamtgesellschaftliche Bezüge gar nicht überschätzt
werden. Untersuchungen über die Herkunft der Jugendlichen in
Fürsorgeerziehung haben ergeben, daß 75 % der
männlichen und 80 % der weiblichen Jugendlichen aus
Arbeiterfamilien stammen. Die Anzahl von unehelichen Kindern
unter den Heiminsassen beträgt ein Vielfaches ihres Anteils
an der Gesamtbevölkerung. Bei näherem Hinsehen zeigt
sich sehr schnell die politische Bedeutung der Heimerziehung. Sie ist
in zweifacher Weise ein Disziplinierungsinstrument der Herrschenden
gegenüber der Arbeiterjugend.
Zum einen wirkt die
Fürsorgeerziehung mit ihren zahllosen Zwängen und
Isolierungen disziplinierend auf die Insassen der Heime. Die
Hauptaufgabe der Heime besteht darin, den "auffällig
gewordenen" Jugendlichen mit allen Mitteln anzupassen. Sie
ist eine totale Erziehung — rund um die Uhr. Das
Jugendarbeitsschutzgesetz hat in den Heimen keine Gültigkeit.
Als Rechtfertigung dient § 1 (2) 1 JArbSchG; er
lautet: "Ausgenommen ist eine Beschäftigung, mit der
überwiegend Zwecke der Erziehung, ... verfolgt werden. "
In den Heimen dient schließlich alles der Erziehung. Eine
miserable Entlohnung — oft erhält der Zögling nur
ein Taschengeld von 5 DM je Woche — ist pädagogisch unhaltbar.
Sie verschlechtert das ohnhin meist gestörte Verhältnis zur
Arbeit und macht die Einübung des Umgangs mit Geld unmöglich.
In ähnlicher Weise werden noch eine Reihe anderer Rechte, zum
Teil Grundrechte, ausgeschaltet. Kontakte nach draußen
werden beschränkt durch Ausgangs- und Besuchsregelung, Post- und
Zeitungskontrolle. Selbst die spärlich bemessene Freizeit ist
stark reglementiert. Wer sich dem verordneten Freizeitangebot
nicht fügt, gilt als "interesselos" und hat mit
Sanktionen zu rechnen. Der Aufbau einer privaten Rückzugssphäre
wird weitgehend unmöglich gemacht. Entweder wird der
Jugendliche mit der Zeit zum "bequemen Untertan"
abgerichtet, oder er lehnt sich auf und flieht. (Nach Aussagen des
Landschaftsverbandes Rheinland ist es als normal zu betrachten,
wenn 10% der Heiminsassen auf der Flucht sind.) Dies bringt eine
erhebliche Gefahr der Kriminalisierung mit sich.
Zum anderen
ist die Fürsorgeerziehung als Disziplinierungsinstrument für
die gesamte Arbeiterjugend von größter Bedeutung. Zwar
gelten Fürsorgeerziehung und Freiwillige Erziehungshilfe nach
den entsprechenden Bestimmungen nicht als Strafe, doch werden sie
von den betroffenen Jugendlichen, wie von der Gesellschaft als solche
empfunden. So schwebt die Drohung einer Heimeinweisung über
jedem Jugendlichen, der nicht im Sinne der gesellschaftlichen
Regeln funktioniert. Außerdem vermittelt das Bestehen der
Heime den in "Freiheit" lebenden Jugendlichen trotz aller
Pression und Ausbeutung in ihren reglementierten Berufs- und
Freizeitsphären das Gefühl, nicht auf der untersten
Sprosse der Sozialleiter zu stehen — denen im Heim geht es ja
702
noch
viel schlechter. So werden die Heimzöglinge wie andere
Randgruppen dazu benutzt, in der Arbeiterschaft ein
"lower-middle-class-Bewußtsein" zu schaffen, das
ihre wahre Interessenlage verschleiert.
Es sind nicht nur
die Spannungen der Gesellschaft, denen der Zögling in
besonderem Maße ausgesetzt ist, auch die Struktur der
Heime selbst setzt Jugendliche wie Erzieher besonderen
Spannungen aus. Die undemokratische Organisation der Großheime
verursacht Rivalitäten und Konflikte, die nur zu oft auf dem
Rücken der Zöglinge ausgetragen werden. Teamwork wird
auch heute noch sehr klein geschrieben. Die einzelnen Gruppen in
der Heimhierarchie führen weitgehend ein Eigenleben. Nicht
selten stehen sie gegeneinander. Ein kurzer Blick auf den Aufbau
dieser Heime mag dies verdeutlichen.
An der Spitze eines
Heimes steht der Direktor. Er soll akademisch vorgebildet sein. Bei
den Heimen in freier — sprich konfessioneller —
Trägerschaft ist dies in der Regel ein Geistlicher oder eine
Ordensschwester. Über ihre spezielle Qualifikation für
die öffentliche Erziehung ist wenig bekannt. Bei den
konfessionellen Heimen steht dem Direktor ein Vorstand zur Seite.
Sie erarbeiten und überwachen die Erziehungskonzeption, die
Heimordnung und die mündlichen oder schriftlichen Anweisungen an
die untergeordneten Mitarbeiter. Außerdem obliegt ihnen die
Leitung der Geschäftsführung und Verwaltung. Dies wird
leider nicht selten dazu benutzt, unter Vorwand der
Arbeitsüberlastung die erzieherischen Aufgaben nicht genügend
wahrzunehmen. Den Mittelbau bilden die Heimleiter, ihnen
unterstehen eine Hausgemeinschaft und die Stationserzieher. Dieser
Mittelbau soll aus vollausgebildeten Sozialarbeitern bestehen. Ihnen
folgen die Gruppenerzieher (Erziehungshelfer mit Kurzausbildung) —
letztes Glied in der Kette sind natürlich die Zöglinge.
Ein
besonderes Eingehen auf die konfessionellen Heime ist erforderlich,
da sie in der öffentlichen Erziehung eine große Rolle
spielen. In Bayern z. B. unterstehen 85 % der für
Fürsorgeerziehung und Freiwillige Erziehungshilfe anerkannten
Heime kirchlichen Trägern, und im Bereich des
Landschaftsverbandes Rheinland gibt es kein einziges
staatliches Mädchenheim! Die fachliche Qualifikation der
Heimerzieher entspricht bei weitem nicht den Soll-Vorstellungen,
was Hanns Eyferth an eindrucksvollen Zahlenbeispielen belegt
1).
Oft
haben gerade die Sozialarbeiter im Mittelbau der Heime ein recht
gutes Verhältnis zu den Zöglingen, während bei
Vorstand und Erziehungshelfern nicht selten ein übersteigertes
"law-and-order"-Denken festzustellen ist. Von jungen
Sozialarbeitern gingen auch in den sechziger Jahren Reformversuche
aus, doch die meisten haben inzwischen vor den verkrusteten
Institutionen kapituliert. Überlange Arbeitszeit und schlechte
Bezahlung taten ein Übriges. Zu welchen Fehlleistungen es in
diesen Heimen kommen kann, soll nachstehender Bericht von Barbara
M. zeigen: "Im Erziehungsheim 'Guter Hirte',
Köln-Junkersdorf, in dem ich 21 Monate untergebracht war,
wurde ich ausschließlich in der Wäscherei beschäftigt.
Ich erhielt einen Stundenlohn von 75 Pf. Als ich nach etwa 4
Monaten gegenüber der Erziehungsleiterin, Schwester A. den
Wunsch äußerte, Kindergärtnerin zu werden, sagte
diese, dies sei kein Beruf für mich; ich sollte lieber in der
Wäscherei arbeiten. Man wolle sich auch darum bemühen,
mir nach der Entlassung eine entsprechende Arbeit zu
vermitteln. Während meines Heimaufenthaltes wurde ich mehr
als dreimal wegen Arbeitsverweigerung unter die kalte Dusche
gestellt. Dies geschah jeweils auf Anordnung der Schwestern A.
(Erziehungsleiterin), G. (Arbeitserzieherin in der Wäscherei)
bzw. B. Mit der Ausführung dieser Strafmaßnahmen wurden
in der Regel die Mitzöglinge A. S. und A. W. beauftragt. In
einem Fall kam ich unter die kalte Dusche, nachdem ich mich
bei Schwester B. und Schwester G. darüber beklagt hatte, daß
ich entgegen der Zusage mei-
1)
„Heimerziehung in Bayern — Analyse einer Statistik",
in Neue Praxis, 1/1971.
703
ner
(früheren) Fürsorgerin vom Jugendamt Erkelenz schon länger
als ein halbes Jahr im Heim wäre und mich anschließend
geweigert hatte, meine Arbeit in der Wäscherei fortzusetzen. Auf
Anordnung und im Beisein von Schwester G. wurde ich von A. S. und
A. W. in die Badewanne gezerrt und — nach meiner Erinnerung 15
Minuten mit der kalten Dusche behandelt. Dies war im Winter 1969.
Als Folge dieser Maßnahme bekam ich kurz darauf Angina. Der
Heimarzt führte die Angina auf die Behandlung mit der kalten
Dusche zurück . .. 2)."
Solche
„Erziehungsmethoden", die an mittelalterliche Tollhäuser
erinnern, sind sicher ein Extremfall. Es ist jedoch üblich,
Erziehungsgruppen so zu bilden, daß sich die Aggressionen
der Jugendlichen gegeneinander richten und so die Arbeit der
Erzieher erleichtern.
Bereits im Jahre 1969 erstellte
Erhard Denninger, Ordinarius für öffentliches Recht
in Frankfurt, ein elf Seiten umfassendes Gutachten, in dem er die
Widersprüche zwischen den Praktiken der öffentlichen
Erziehung und dem Grundgesetz aufzeigt. Inzwischen hat sich nichts
oder nur wenig geändert, so daß die Feststellungen von
Prof. Denninger noch ihre volle Gültigkeit besitzen.
"Jedes
Kind und jeder Jugendliche hat ein Recht auf Erziehung (§ 1 Abs.
1 Jugendwohlfahrtsgesetz), d. h. auf Entwicklung und Ausbildung
derjenigen Fähigkeiten, die eine selbstverantwortliche Existenz
im beruflichen und im privaten Leben sowie in einer
demokratischen Gesellschaft politisch mündiger Bürger
voraussetzt. "
"Erziehungsmaßnahmen und
-methoden, welche nicht geeignet sind, die Fähigkeiten
des Kindes zu selbstverantwortlicher Entscheidung zu entwickeln
und zu stärken, welche vielmehr bloße Dressurakte
(Eingewöhnung von Verhaltensmustern durch positive oder negative
Sanktionen) zum Inhalt haben, verstoßen gegen das Prinzip
der Anleitung zur Autonomie und sind verfassungswidrig."
Im
weiteren wird darauf hingewiesen, daß elterlicher und
staatlicher Erziehungsauftrag zu unterscheiden sind. So hat der
Staat kein Recht, dem Kind oder Jugendlichen eine an einem
bestimmten weltanschaulichen Leitbild inhaltlich fixierte Erziehung
aufzuzwingen. Das Recht auf eine den Begabungen und Neigungen des
Jugendlichen entsprechende Berufsausbildung, wie es Denninger
postuliert, ist von größter Bedeutung. Leider überwiegt
in den Heimen noch oft der Trend zur Ausbildung in
klassischen Berufen mit wenig Zukunftsaussichten. Dies hängt
wohl nicht zuletzt mit der abgeschiedenen Lage vieler
Erziehungsheime zusammen.
"Jugendliche, die keine
abgeschlossene Berufsausbildung erreicht haben oder eine andere
zu erhalten wünschen, dürfen in keinem Falle längere
Zeit mit bloßer Routinearbeit ohne Ausbildungswert beschäftigt
werden. Derartige Arbeiten a. la Tütenkleben sind schon für
einen modernen Strafvollzug untragbar, erst recht aber in einem
Heim mit Erziehungsaufgaben." (Denninger, S. 8.)
Denninger
prangert eine Reihe weiterer Rechtsanmaßungen von seiten der
für die Heimerziehung Verantwortlichen an und zeigt den
Widerspruch zum Grundgesetz auf. Er kommt zu dem Schluß:
"Eine Fürsorgeerziehung, die auf dem Prinzip des
Mißtrauens statt auf dem Prinzip des Vertrauens aufbaut,
kann nicht diejenige sozialisierende Wirkung erzielen, um
deretwillen der Gesetzgeber die Möglichkeiten staatlicher
Erziehungshilfen eingeführt hat."
In
Erziehungsheimen, die sich am gehorsamen Untertan vergangener Tage
orientieren und nicht die frei entfaltete kritische Persönlichkeit
fördern, ist lustfeindliches Verhalten nur logisch. In den
Heimen besteht eine strikte Trennung der Geschlechter, was
eine natürliche Entwicklung der Sexualität
verhindert. Die Sexualerziehung ist äußerst mangelhaft
und fehlt meist ganz. So sind Verhaltensweisen, die man gemeinhin
als "knastschwul" bezeichnet, in den Heimen keine
Seltenheit. Das Sexualverhalten der
2)
Originalbericht im Besitz des Verfassers.
704
Jugendlichen,
die aus Erziehungsheimen entlassen oder entwichen sind, ist oft
erheblich gestört. Es reicht von Kontaktschwierigkeiten und
akuter Homophilie bis zum Versuch der Überkompensation des
Versäumten und zur Prostitution. Hier spielt dann auch
das gestörte Verhältnis zu Geld und Arbeit eine
verhängnisvolle Rolle.
Daß die Drogenwelle mit
ihrer Verheißung künstlicher Paradiese in die
freudlose Welt der Erziehungsheime eingedrungen ist, kann niemand
verwundern. Hier das Beispiel Horst K.: Als K. aus einem Heim
entwichen, zum erstenmal im Republikanischen Club Köln
auftauchte, nahm er Trips so oft wie möglich. Sein Betreuer
beschränkte sich auf eine Aufklärung über die
Gefahren, verzichtete jedoch auf jegliche Sanktionen. Sobald sich
Horst etwas eingewöhnt hatte, wurden die Abstände zwischen
den einzelnen "Reisen" immer länger. Schließlich
waren es gut drei Wochen. Nun drängte er von sich aus auf
Legalisierung seiner Freiheit. Beim Landesjugendamt wurde ihm gesagt,
daß man im Augenblick nicht viel für ihn tun könne,
er müsse sich mit dem zuständigen Jugendamt seiner
Heimatstadt in Verbindung setzen. Er bekam eine Fahrkarte und die
Zusicherung freien Geleits. Noch während er sich im
städtischen Jugendamt befand, wurde er verhaftet. Nach seiner
Verurteilung wegen einer Bagatellsache, die mit der
Untersuchungshaft abgebüßt war, kam er ins Heim zurück.
Dort begann er zu fixen. Er entwich erneut und nahm Kontakt mit
seinem Kölner Betreuer und mit "Release" auf.
Inzwischen ist er von der Nadel wieder ab.
Besonders
gefährdet sind die aus den Heimen entwichenen Jugendlichen.
Ohne Geld, Ausweis- und Arbeitspapiere landen sie meist in den
großen Städten. Ihnen bleibt nur der Untergrund;
allzuleicht werden sie Opfer von Schläger- und
Zuhälterbanden. Die Jugendämter verlassen sich
weitgehend auf die Polizei, für die sich das Verfahren der
Festnahme und Rückführung als ein Kreis ohne Ende
darstellt. Die zwangsweise Rückführung in die Heime löst
bei den Jugendlichen eine Protesthaltung aus, die dazu führt,
daß sie möglichst bald einen neuen Fluchtversuch
machen.
Bei den entwichenen Zöglingen setzte die Arbeit
unabhängiger linker Gruppen an. Gegen den Widerstand der
Behörden wurden die ersten Zöglingskollektive
gegründet. Zunächst versuchten die Behörden,
diese Ansätze mit Gewalt zu zerschlagen. Aber es war schon zu
spät. Die Öffentlichkeit wachte auf. Daraufhin wechselte
man die Taktik. Mit Hilfe von vertrauenswürdig erscheinenden
Personen begannen die Jugendämter mit der Gründung von
Gegenkollektiven. Während die zuerst gegründeten Kollektive
an chronischem Geldmangel litten und einige bereits daran
gescheitert waren, verfiel man bei den Gegenkollektiven umgekehrt
in den umgekehrten Fehler der Überfinanzierung. Daß ein
Jugendlicher bei freier Unterkunft und einem Taschengeld von rund 300
DM — über solche Summen konnten z. B. Zöglinge in
einem Kollektiv in Köln-Ostheim verfügen — keine
große Lust zum Arbeiten empfindet, kann man ihm kaum verdenken.
Ein weiterer, oft gemachter Fehler ist es, Kollektive außerhalb
der Städte oder an deren Rand aufzuziehen. Sie werden in
Verlängerung der Heime zu neuen Zöglingsgettos. Kontakte zu
Jugendlichen in "normalen" Verhältnissen sind von
größter Bedeutung.
Wichtig für die Zukunft ist
auch die Gründung von Kontaktzentren, bei denen die Jugendlichen
Rat und Hilfe finden, ohne befürchten zu. müssen,
festgehalten zu werden. Die ihnen aber, falls sie es wünschen,
Arbeit und Wohngelegenheit verschaffen. Eine wesentliche Einsicht
hat die Arbeit mit Zöglingen noch gebracht: Bei allem guten
Willen bleibt die Einzelhilfe nur ein Tropfen auf den berühmten
heißen Stein. Eine wirkliche Lösung für die
Probleme der unter öffentlicher Erziehung stehenden Jugendlichen
kann nur eine politische Lösung sein. Sie muß eine
grundlegende Änderung der Erziehungskonzeption bringen;
Erziehung muß Menschen ermöglichen, die zur
Selbstbestimmung fähig sind — bislang bringt die
öffentliche Erziehung allenfalls gewaltsam angepaßte
Untertanen hervor.
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